Doppelbesteuerungsabkommen. Die Gültigkeit von Wohnsitzbescheinigungen im Lichte des Urteils des Obersten Gerichtshofs 778/2023
Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Urteils der Verwaltungskammer des Obersten Gerichtshofs Nr. 778/2023 vom 12. Juni (ECLI:ES:TRIBUNAL SUPREMO:2023:2735) über die Gültigkeit von Ansässigkeitsbescheinigungen, die von der zuständigen Steuerbehörde eines Landes ausgestellt wurden, das ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Spanien unterzeichnet hat (DOPPELBESTEUERUNGSVERMEIDUNGSABKOMMEN).
Beschreibung der durch das Urteil geschaffenen Rechtsprechung
1. In seiner vierten Rechtsgrundlage legt das Urteil die Rechtsmittelbelehrung zu drei Fragen von höchstem Interesse fest:
– a) Die nationalen Verwaltungs- oder Justizbehörden sind nicht befugt, die Umstände zu beurteilen, unter denen ein anderer Staat eine Ansässigkeitsbescheinigung für die Zwecke eines Doppelbesteuerungsabkommens ausgestellt hat.
Folglich sollte der Inhalt einer solchen Bescheinigung, die von den Steuerbehörden eines Landes, das ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Spanien unterzeichnet hat, ausgestellt wurde, berücksichtigt werden.
– b) Für die Prüfung des Vorliegens eines Ansässigkeitskonflikts zwischen zwei Staaten ist die Gültigkeit einer von den Steuerbehörden des anderen Vertragsstaats ausgestellten Ansässigkeitsbescheinigung im Sinne des Doppelbesteuerungsabkommens zu vermuten, und ihr Inhalt kann nicht abgelehnt werden, nur weil dieses Abkommen unterzeichnet wurde.
– c) Ein Staat, der ein Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet hat, kann nicht einseitig über das Vorliegen eines Ansässigkeitskonflikts urteilen und dabei die Anwendung der spezifischen Regeln des genannten Abkommens für diese Fälle außer Acht lassen.
Bei Vorliegen eines Ansässigkeitskonflikts muss daher auf die im Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehenen Regeln zurückgegriffen werden, die eine autonome Auslegung im Verhältnis zu den innerstaatlichen Vorschriften, die ähnliche Begriffe enthalten, erfordern.
Insbesondere die in Artikel 4.2 des Abkommens vorgesehene Regel des „Mittelpunkts der Lebensinteressen“ ist weiter gefasst als der Begriff des „Mittelpunkts der wirtschaftlichen Interessen“ in Artikel 9.1.b) des Einkommensteuergesetzes und daher nicht vergleichbar.
2. Das von der Verwaltungskammer des Obersten Gerichtshofs aufgestellte Kriterium bestätigt die Rechtsprechung, die dieselbe Kammer in ihrem Urteil 071/2006 vom 4. Juli (ECLI:ES:TRIBUNAL SUPREMO:2006:5071) aufgestellt hat. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er bereits 2006 die Möglichkeit bestätigt hat, dass eine Person in beiden Vertragsstaaten wohnhaft sein kann, „gerade weil das Übereinkommen die Bestimmung des Wohnsitzes dem innerstaatlichen Recht jedes Staates überlässt“.
3. Folglich kann eine Bescheinigung über den steuerlichen Wohnsitz, die von einem anderen Staat ausgestellt wurde, mit dem ein DOPPELBESTEUERUNGSVERMEIDUNGSÜBEREINKOMMEN besteht, nicht außer Acht gelassen werden. Die Unterzeichnerstaaten können sich nicht über das Abkommen hinwegsetzen, um einseitig Streitigkeiten zu lösen, die sich aus Situationen der doppelten steuerlichen Ansässigkeit ergeben, denn gerade dieses Abkommen ist das Instrument, das sie sich dazu gegeben haben. Die Infragestellung von Ansässigkeitsbescheinigungen, die von einem anderen Vertragsstaat ausgestellt wurden, stellt nämlich einen Verstoß gegen Art. 4.1 des ÜBEREINKOMMENS ZUR VERMEIDUNG DER DOPPELBESTEUERUNG dar, der mit Art. 96.1 der spanischen Verfassung unvereinbar ist (1) .
4. In dem angefochtenen Urteil reduzierte die Audiencia Nacional die Bescheinigung des steuerlichen Wohnsitzes auf die Kategorie der „Indizien, die für einen steuerlichen Wohnsitz in diesem Land sprechen“, was im Widerspruch zur Aussagekraft der Beweise stand, die für die Feststellung des steuerlichen Wohnsitzes in Spanien sprachen. In Anbetracht der übrigen Beweise stellte die Audiencia Nacional fest, dass der Steuerpflichtige nur in Spanien steuerlich ansässig war und somit kein Wohnsitzkonflikt vorlag. Nach der Entscheidung des Gerichts gab es keinen Grund, das zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten Amerika geschlossene Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung anzuwenden.
5. Wie der Oberste Gerichtshof hervorhebt, „waren die Verwaltungs- oder Justizbehörden nicht befugt, die Umstände zu beurteilen, unter denen eine steuerliche Ansässigkeitsbescheinigung von einem anderen Staat ausgestellt worden war“. Unabhängig von der Tatsache, dass eine solche Wohnsitzbescheinigung einem US-Staatsangehörigen ausgestellt wird, nur weil er ein US-Staatsangehöriger ist (so die Audiencia Nacional selbst), können die spanischen Justiz- und Verwaltungsorgane ihre Wirksamkeit und Gültigkeit also nicht bestreiten oder beurteilen. Wenn ein Staat ein Doppelbesteuerungsabkommen mit einem anderen Staat unterzeichnet, erkennt er im Gegenzug die Zuständigkeit dieses anderen Vertragsstaates für die Festlegung der von ihm für angemessen erachteten Vorschriften über den steuerlichen Wohnsitz an.
6. Dabei spielt es keine Rolle, wie unterschiedlich oder seltsam die Definitionen des steuerlichen Wohnsitzes in anderen Vorschriften aus spanischer Sicht erscheinen mögen. Für das ÜBEREINKOMMEN ZUR VERMEIDUNG DER DOPPELBESTEUERUNG ist es von wesentlicher Bedeutung, dass der Status des steuerlichen Wohnsitzes in einem Staat eintritt, wenn die in seiner Rechtsordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, ohne dass die Behörden eines Staates die Befugnis haben, die Gültigkeit der von einem anderen Staat vorgenommenen Bestimmung des Wohnsitzes zu beurteilen. Die Bescheinigung des steuerlichen Wohnsitzes ist daher als gültig anzusehen, wenn sie von der zuständigen Behörde des Landes ausgestellt wird und ausdrücklich darauf hinweist, dass sie für die Zwecke eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ausgestellt wird.
7. Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Wortlaut von Artikel 4 Absatz 1 des ÜBEREINKOMMENS ÜBER DIE VERMEIDUNG DER DOPPELBESTEUERUNG, in dem es heißt: „Im Sinne dieses Übereinkommens gilt als ‚in einem Vertragsstaat ansässig‘ jede Person, die nach dem Recht dieses Staates dort aufgrund ihres Wohnsitzes, ihres Aufenthalts, des Ortes ihrer Geschäftsleitung, ihres Sitzes oder eines anderen gleichartigen Kriteriums steuerpflichtig ist“. Die Ansässigkeit in einem Staat lässt sich also nur durch dessen innerstaatliches Recht bestimmen.
8. Tatsächlich ist es die ausschließliche Zuständigkeit der Staaten für die Bestimmung des steuerlichen Wohnsitzes, die zu Wohnsitzkonflikten führt und dem Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen einen Sinn verleiht. Wie das OECD-Musterabkommen erläutert, „entsteht der Konflikt dadurch, dass ein oder beide Vertragsstaaten nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht den Wohnsitz der betreffenden Person beanspruchen“. Die Abkommen beruhen auf der Achtung der innerstaatlichen Vorschriften zur Bestimmung der Ansässigkeit der Vertragsstaaten, da sie „nicht die Kriterien festlegen, die von den innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Bezug auf die ‚Ansässigkeit‘ zu befolgen sind […]. In dieser Hinsicht stützen sich die Staaten ausschließlich auf ihr innerstaatliches Recht“.
9. Wie in dem Urteil didaktisch erläutert wird, ist nach Feststellung eines Doppelansässigkeitskonflikts, bei dem das Finanzamt den steuerlichen Wohnsitz einer natürlichen Person beansprucht, die eine US-Steueransässigkeitsbescheinigung vorlegt, auf die in Artikel 4 Absatz 2 des ÜBEREINKOMMENS ÜBER DIE VERMEIDUNG DER DOPPELBESTEUERUNG vorgesehene Ausgleichsregelung zurückzugreifen. Aus diesem Grund verweist der Oberste Gerichtshof die Rechtssache an die Audiencia Nacional zurück, damit diese die zuvor von ihr verweigerte Bescheinigung über den steuerlichen Wohnsitz in den USA als gültig anerkennt und die Rechtssache nach den Regeln des Übereinkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung über die Gleichheit der Besteuerung entscheidet.
10. Das Urteil befasst sich nicht mit einer Frage, die aller Wahrscheinlichkeit nach Gegenstand künftiger Urteile sein wird: inwieweit der Besitz einer Bescheinigung über den steuerlichen Wohnsitz eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung eine unabdingbare Voraussetzung für den Zugang zu dessen Schutz ist. Diese These wird vom TEAC vertreten und von der Audiencia Nacional als verhältnismäßig angesehen, außer in den Fällen, in denen ein Staat die Ausstellung einer solchen Bescheinigung generell ablehnt.